Die Banting-Diät: Türöffner zum modernen Körpermanagement

Wir alle wissen um die Bedeutung von Diäten, deutlich weniger aber um die der Diätetik. Letztere gründete in der antiken Philosophie und Medizin, stand nicht allein für körperliche Gesundheit, sondern für Lebenskunst. Die Überlieferung ist fragmentarisch, auch deshalb der stete Rückblick auf die Fragmente von Hippokrates (460-377 v. Chr.) und Galen (133-199). In früheren Publikationen des Kulinaristik-Forums haben Christoph Klotter und Dietrich v. Engelhardt das Spektrum genauer umrissen: Gesundheit war eingebunden in ein Wechselspiel von Mikro- und Makrokosmos, die vier Elemente, Qualitäten und Säfte fanden sich im Kosmos, aber auch in jedem Menschen. Neben natürlichen standen gesundheitsschädigende Dinge, besonderes Interesse fanden jedoch die sechs nicht natürlichen Dinge: Licht und Luft, Essen und Trinken, Bewegung und Ruhe, Schlafen und Wachen, Ausscheidungen und die Affekte, sie alle waren notwendige, aber gestaltbare Grundlagen eines gesunden Lebens, ihre rechte Balance entschied über das Lebensglück.

Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein beherrschte dieses Denken nicht nur die Medizin, sondern viele, insbesondere religiös geprägte Praktiken des Fastens. Fettigkeit, so im gleichnamigen Artikel im Krünitz, war daher ein „Denkzettel […], welche die Natur denen anhinge, die sich an ihr versündiget hätten“. Übergewicht war Ausdruck eines nicht ausgewogenen Lebens, resultierte nicht unbedingt aus zu viel Nahrung. Entscheidend waren vielmehr überflüssige Nahrungssäfte, eine fehlende Zirkulation. Weniger Essen und mehr Bewegung mochten zur Wiedergewinnung des inneren Gleichgewichtes erforderlich sein, doch von gleicher Bedeutung war Zellaktivierung durch kalte Bäder, durch Körperreibungen und Waschungen, die Zufuhr weicher, flüssiger Speisen und eine Abkehr von Schläfrigkeit und zu ruhigem Dasein. Dieses Denken änderte sich langsam mit dem Aufkommen der chemischen Stofflehre im späten 18. Jahrhundert, auch die Wasser- und Hungerkuren von Johann Schroth (1798-1856) bzw. Vincenz Prießnitz (1799-1851) wiesen den Weg in neue Regime der Gesundheitsförderung und der Körperkontrolle.

Ein gesetzter Dicker mit sich und seiner Umwelt im Reinen (Düsseldorfer Monatshefte 5, 1852, 134)

Der eigentliche Bruch erfolgte jedoch im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts. Die vornehmlich vom Gießener Chemiker Justus Liebig (1803-1873) formulierte Stoffwechsellehre etablierte neue, gleichermaßen für Pflanzen, Tiere und Menschen geltende Vorstellungen eines Stoffaustausches ohne geistigen Überbau. Leben oszillierte zwischen Stoffzufuhr, Kraftverlust und chemischen Reaktionen. Die Aufgabe des Arztes bei der Therapie der Korpulenz wandelte sich damit zum Rechenexempel. Weniger Stoffe und/oder deren vermehrte Verbrennung durch körperliche Anstrengung waren die Königswege. Der französische Mediziner Jean-Francois Dancel (1804-1864) formulierte auf dieser Grundlage um 1850 erste physiologisch begründete Diäten. Doch seine auch ins Deutsche übersetzten Werke waren nicht populär, waren zu gelehrsam. Das änderte erst William Banting (1797-1878) mit seinem „Letter of Corpulence“, einem kurzen 1863 veröffentlichten Text.

Bantings Brief war der eines Laien, ein Lebens- und Leidensbericht, zugleich aber eine Geschichte von Heilung, ja Erlösung. Banting war ein erfolgreicher Londoner Geschäftsmann, der seit Mitte 30 zunehmend dicker wurde. Er kämpfte dagegen an, konsultierte zahlreiche Ärzte, darunter Autoritäten. Niemand konnte ihm scheinbar helfen. Sport und Nahrungsverzicht machten ihn hungriger, ließen den Bauch nochmals anschwellen. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich, Banting wurde öffentlich als Fettsack gehänselt, empfand Scham über sein Äußeres. Ein Ohrenarzt, William Harvey (1806-1876), gab ihm schließlich den Rat, Brot und Butter, Zucker und Bier, Kartoffeln und Champagner zeitweilig aufzugeben, dafür aber bei Fleisch und Fisch, Obst und Gemüse, bei Wein und Tee nach Baucheslust zuzugreifen. Banting setzte die Ratschläge um, beharrlich und erfolgreich: Sein Gewicht sank binnen Jahresfrist von 200 auf 150 englische Pfund. Seine Gesundheit verbesserte sich, seine Füße wurden wieder sichtbar, Treppensteigen gelang ohne Mühe. Banting schrieb all dies nieder, auch seinen groben Speisezettel. Er dozierte nicht, er gab ein Beispiel. Seine Diät war wirksam, nachvollziehbar, kein abstraktes Dozieren. Damit wurde sie zum Türöffner eines neuen, eines modernen Körpermanagements.

Sein Brief, so die britischen Ärzte, enthalte nichts Neues, sei eine ungebildete Anmaßung. Doch ihre eigene Praxis unterstrich, dass sie vielen Patienten nicht helfen konnten, da eine klare Leitlinie fehlte, da sie anleiteten, kaum aber erklärten. Das änderte sich nun, dank Banting. Das wirkende Prinzip schien klar: Der Körper verbrannte seine Fettreserven, denn diese wurden benötigt, um das viele Eiweiß zu verarbeiten, um Muskelmasse aufzubauen. Kohlenhydrate konnten nicht an die Stelle des Fettes treten, das verstärkte den Effekt. Das war simpel gedacht, aus heutiger Sicht zu simpel; doch es wirkte, auch auf die Gefahr von Gesundheitsschädigungen hin.

Der dicke Bürger als Gespött des armen Zeitungsverkäufers (Punch 47, 1864, 142)

In England setzte Anfang 1864 eine „Banting-Manie“ ein. Bürger – andere konnten sich die gute Fleischkost nicht erlauben – „bantingten“ gemeinsam, feierten ihre schwindenden Körper. Diäten waren nicht mehr länger Privatsache, sondern Ausdruck von Selbstdisziplin und Handlungsmacht. Das zeigte sich auch auf dem Kontinent, wo Banting erst in Frankreich und Österreich-Ungarn, 1865/66 dann auch in deutschen Landen modisch, ja zur „Manie“ wurde. Die Mediziner wurden von alldem überwältigt, mitgerissen. Doch sie gewannen die geistige Hoheit zurück. In Preußen übersetzte der Hallenser Mediziner Julius Vogel (1814-1880) Bantings Brief, etablierte einen Speiseplan nach deutschem Gustus. Zugleich erklärte er, warum die Diät erfolgreich war: Es war eine Anwendung der Liebigschen Stoffwechselphysiologie, so einfach! Korpulenz wurde pathologisiert, der Dicke war nicht mehr länger wohlgenährt und wohlhabend, sondern gesundheitsgefährdet und haltlos. Gewiss, Vogel war guter Kulinarist, er wusste um die Schwachstellen der Physiologie, kannte und beachtete die Alltagsernährung und den Sinn des Essens. Doch in den Laboratorien wurde weiter geforscht, das Wissen verfeinert, neue Stoffe entdeckt, ihre Wirkungen erkundet. Die Folge war seit den 1880er Jahren eine wachsende Palette von Diäten, nun auch „low-fat“, „less-fluid“, „less protein“, oder einfach Ebstein-, Oertel-, Schweininger-Diät, etc. Die Namen sind heute andere, doch allesamt lassen sie sich auf diese Zeit zurückführen.

Fort mit Brot und Bier, fort mit den Pfunden (Kladderadatsch 18, 1865, 94)

Die Banting-Kur war aber auch ein kommerzielles Phänomen: Sie gab jedem ein einfaches Rezept an die Hand, um Ballast abzuwerfen und den eigenen Körper gefälliger zu formen. Neue Dienstleistungen und Diätprodukte dockten sich an den Trend an und zogen daraus Gewinn. Die Banting-Kur verbreitete sich über die Großstädte der damaligen westlichen Welt, über die Zentren des Konsums. Es gab Diät-Ratgeber, Kurorte und Sanatorien, Diätpräparate bis hin zu „Banting-Biscuits“, „Banting-Zwieback“ oder gar „Banting-Kragen“. Als William Banting 1878 starb, war der Wirbel um seine Diät längst abgeebbt. Sein Gewicht hatte er gehalten. Doch die Welt war eine andere geworden. Der Körper stand nicht mehr im Zentrum eines umfassend gedachten Kosmos. Er war Aufgabe und Verpflichtung jedes Einzelnen geworden.

Literatur:

Jaime M. Miller, „Do you Bant?“ William Banting and Bantingism. A Cultural History of a Victorian Anti-Fat Aesthetic, Phil. Diss. Norfolk, VA 2014 („“Do You Bant?“ William Banting and Bantingism: A Cultural History of a“ by Jaime Michelle Miller (odu.edu))

Uwe Spiekermann, Die erste moderne Diät – William Bantings Kur gegen Korpulenz in Mitteleuropa (2022) (Die erste moderne Diät – William Bantings Kur gegen Korpulenz in Mitteleuropa | Uwe Spiekermann (uwe-spiekermann.com))

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