Horace Fletcher – oder die Ideologisierung des Kauens

Kauen ist unabdingbar. Durch den Mund tritt die Nahrung in den Körper, wird hier von den Zähnen zerkleinert, vom Speichel aufgeschlossen. „Gut gekaut, ist halb verdaut“ ist daher eine seit dem Mittelalter immer wiederholte Alltagssentenz. Doch Kauen ist auch zutiefst kulinaristisch. Unsere Geschmacksknospen helfen bei der Bewertung des Essens, transformieren Stoffe in Sinneseindrücke, Speisen in Lieblingsspeisen. Kauen war daher schon bei den frühen Gastrosophen ein immer auch kulturprägendes Geschehen. Eugen von Vaerst (1792-1855) betonte in seiner „Gastrosophie“: „Wer gut verdauen will, muß vor allem Andern langsam essen und gut kauen“. Kauen war nicht nur Ausdruck unseres Nahrungstriebes, sondern seine gesellige Praxis hob den essenden Mensch vom Tierreich ab. Kinder hielt man zu langsamen Essen an, ebnete so den Weg in die Gastlichkeit des Erwachsenen. Um 1900 war gutes Kauen Ausdruck eines gesunden Lebens, praktizierter Lebenskunst. Es stand gegen das „Schlingen“, das achtlose Hineinstopfen der Nahrung. Gutes Kauen stand für eine bürgerliche, auch kleinbürgerliche Welt des Innehaltens, des Abstandes zum hektischen Alltag einer modernen Industrie- und Konsumgesellschaft.

Bekenntnisse zum richtigen Kauen und zum besseren Leben. Inhaltsverzeichnis eines Bestsellers und Porträt Fletchers 1909 (Horace Fletcher, Menticulture or the A-B-C of True Living, verm. Aufl. 1899, 5; Wikipedia)

Doch „modernes“ Kauen wurde zu dieser Zeit auch etwas anderes, wurde Teil einer neuen alternativen Stellung zu Welt und Umwelt. Diese Ideologisierung des Kauens war Kern des „Fletcherismus“, einer amerikanischen Gesundheitslehre, die in den späten 1890er Jahren aufkam. Richtiges Kauen ermögliche eine bessere, eine vollständige Nutzung der Nahrung, bringe den Menschen zurück zu seinen natürlichen Ursprüngen, so die Kernbotschaft von Horace Fletcher (1849-1919), ein Unternehmer mit ehedem massiven Gewichts- und Darmproblemen. Wie so viele Ernährungsreformer präsentierte auch er seit den späten 1890er Jahren eine Geschichte von Krankheit, Einsicht und Umkehr, die dann in Bekenntnis und Mission mündete. Worum ging es? Fletcher beschloss, zur Rekonvaleszenz nicht mehr zu essen als nötig. Dazu bediente er sich einer neuen Kautechnik, nahm das „Well chewed is half digested“ wörtlich. Das wenige Essen – Ideal war eine Reduktion auf die Hälfte – sollte besser genutzt, die Verdauung schon in den Mund vorverlegt werden. Zähne und Speichel sollten ihre natürliche Funktion vollständig erfüllen, die Nahrung schon im Munde zu einem Saft verflüssigen. War auf der Zunge nichts Festens mehr zu spüren, so wurde geschluckt – doch das erfolgte gleichsam natürlich, nach 30, 40, 100 Kauakten. Der Gaumen wurde zur Schildwache, mutierte zum diätetischen Gewissen, zum Garanten einer natürlichen, instinktgemäßen Ernährung.

Fletcher schrieb seine Erfahrungen in einfacher, eingängiger Sprache nieder, baute auf seiner Art des richtigen Kauens eine, seine Lebensphilosophie auf. Sie entsprach dem bürgerlichen Individualismus, dem Wollen und Zwingen selbstbestimmter Menschen. Kauen stand für die bewusste Wahl eines gesunden Lebens, stand für eine Rückfrage an den an sich geteilten Mainstream des modernen Daseins. Sein Kauen, das „Fletchern“, sei bewusste, gleichwohl natürliche Körperbildung. Dies war ein Mantra zahlreicher protestantischer Apostel, die „Bodybuilding“ predigten, die gesundheitsförderliches Fasten empfahlen, natürliche Lebensmittel propagierten, teils Diäten entwickelten. Ein Verweis auf Edward H. Dewey (1837-1904), Sanford Bennett (1841-1926) und Bernarr Macfadden (1868-1955) mag genügen.

Fletchers Bücher „Menticulture“, „Happiness“, „What Sense? or Economic Nutrition“ waren Bestseller der Jahrhundertwende, entfachten eine populäre Bewegung. Fletcher hielt der amerikanischen Gesellschaft einen Spiegel vor, zeigte am eigenen Beispiel jedoch Auswege aus einer von Hast und Kommerz, vom Verlust der Natur und der Dominanz gesellschaftlicher Konventionen geprägten Gegenwart: „Mastication”, richtiges Kauen war Ruhepol, war Konzentration auf eigenes Tun. Fletchers Programm war breit angelegt, der Einzelne Teil einer umfassenden Sozialreform, die Effizienz und Natur harmonisch miteinander verbinden sollte. Der Reformer suchte folgerichtig nicht nur Kontakt zu anderen Reformern, sondern auch zu etablierten Wissenschaftlern.

Die 1902 bis 1904 vom Physiologen Russell Henry Chittenden (1856-1943) in Yale durchgeführten Untersuchungen bestätigten, auch am Beispiel Fletchers, dass die starren Regeln des seit Jahrzehnten geltenden Voitschen Kostmaßes nicht immer galten. Die darin empfohlenen täglichen 118 Gramm Eiweiß waren eine schon zuvor wiederholt hinterfragte Setzung, gesundes und sparsames Leben auch mit weniger möglich. Fletcher transformierte diese Ergebnisse in neue Bestseller („The New Glutton or Epicure“; „The new Menticulture“), unternahm nun aber auch umfangreiche Vortragsreisen durch Europa, knüpfte Kontakte zu ihm geneigten Wissenschaftlern, die er förderte, teils finanzierte. „Fletchern“ blieb auch dadurch öffentliches Thema. Was kümmerte es da, dass rückfragende Untersuchungen schon 1903 klar ergaben, dass die physiologischen Effekte intensivierten Kauens marginal, dass also Fletchers Kernbotschaft unzutreffend war. Auch der „Schlinger“ nimmt nur wenige Prozente weniger Nahrung auf als der ausgiebig Kauende oder gar der wollüstig kauende Jünger Fletchers.

Heilslehre aus Übersee (Jugend 17, 1912, T. 1, 243)

Auch im Deutschen Reich wurde der Fletcherismus kontrovers diskutiert. Er passte in die Fin de Siècle-Stimmung, wie sie insbesondere von den Brotreformern gepflegt wurde. Sie verstanden die Abkehr vom (vielfach fiktiven) harten Roggenbrot der Vorfahren als Verweichlichung, als „Entartung“. Männer wie Gustav Simons (1861-1914) oder Stefan Steinmetz (1858-1930) standen für eine völkisch-nationalistische Deutung des Übergangs zum Industriestaat und zur Konsumgesellschaft. Hartes Brot und gutes Kauen bedingten einander, schienen den bürgerlichen Aktivisten deshalb unabdingbar für ein gesundes und zukunftsfähiges Deutsches Reich. Aber musste dies in Form eines kruden amerikanischen Kausystems erfolgen? Wo blieb da edler deutscher Sinn, die schweigende Andacht am Familientisch? Solche Rückfragen wurden zumindest innerhalb der vegetarischen Bewegung laut. Weniger Eiweiß, zumal weniger Fleisch – das war in ihrem Sinne. „Gut gekaut, ist halb verdaut!“ stand auf Speisekarten vegetarischer Restaurants. Doch Fletchern? Das schien für den arbeitsamen Deutschen nicht erforderlich, sondern nur für Wohlhabende, die für ihre Gesundheit, für ihren Körper lebten. Kauen sei zudem mehr als eine vegetativ-mechanische Nahrungsverflüssigung, sei Teil einer Esskultur, feiner Geselligkeit nach stillem Mahl.

Kauen in der lebensreformerischen Praxis (Borosini, Eßsucht, 4. verb. Aufl. 1912, n. 192)

Der Fletcherismus kam in Deutschland 1905/1906 stärker auf, doch erst die 1911 einsetzende zweite Welle machte ihn auch zu einem öffentlich kontrovers diskutierten Thema. Fletcher hatte mit dem Münchener Arzt August Joseph von Borosini (1874-1965) einen bekennerfreudigen Jünger gefunden. Er vermarktete das richtige Kauen als Diät und Verjüngungskur, veröffentlichte 1911 dann „Die Eßsucht und ihre Bekämpfung durch Horace Fletcher A.M.“ Dieses Erfolgsbuch kondensierte Fletchers Lehre, reicherte sie mit eigenen Ideen an. Im Gedächtnis haften blieb vor allem Borosinis strikt-militärisches Kauregime, Gesundheitsarbeit, die viele spätere Wellness-Wellen vorwegnahm. Obwohl bis 1912 10.000 Exemplare gedruckt worden waren, galt der Fletcherismus damals aber eher als Absonderlichkeit, als Ausfluss eines obskuren Amerikaners und seines deutschen Künders: „Merk, du große Menschenherde: / Nur das Kauen bringt Genuss! / Dieser Kasus macht die Erde / Zu ‚nem einzigen Kau-kasus. / Der Prophet will, dass man flott / Rings im weiten Weltenbau, / Kau‘ in Moskau, Zwickau, Grottkau, / Afri- und Amerikau! / Heil dem Yankee Horace Fletcher! / Bringt ein Hoch ihm kräftigen Lauts / Schließt euch an, Kartoffelquetscher! / Wer nicht kaut, der ist ein Kauz“ (Der Kau-Boy, Die Lebenskunst 7, 1912, 532). Gewiss, „gut gekaut, ist halb verdaut“ – doch man kann alles übertreiben. Das geschah dann im Ersten Weltkrieg, als „Fletchern“ Teil der nationalen Durchhaltepropaganda wurde.

Literatur:

Uwe Spiekermann, Deutsches Kauen: Nationalsozialistisches „Rösen“ und seine Vorgeschichte (2022) (Deutsches Kauen: Nationalsozialistisches „Rösen“ und seine Vorgeschichte | Uwe Spiekermann (uwe-spiekermann.com))

J[ames] C. Whorton, “Physiologic optimism”: Horace Fletcher and hygienic ideology in Progressive America, Bulletin of the History of Medicine 55, 1981, 59-87

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