Naschen – schnökern – schnausen

schnucken – schnützen – vernaschen

Foto von Patrick Fore auf Unsplash

Heimliches Naschen wirkt ein bisschen aus der Zeit gefallen. Man tut es nur noch selten und mit antrainiertem schlechtem Gewissen. Naschen hat heute, wie Uwe Spiekermann gezeigt hat, nichts Verbotenes mehr. Man isst, genießt, gönnt sich Schokolade, Gummibärchen, Süßigkeiten. Der allgemeine Sprachgebrauch bestätigt dies. Der Gebrauch des Verbs naschen hat in den Referenz- und Zeitungskorpora zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen starken Einbruch erfahren (vgl. Abb. 1), was mit seinem typischen semantischen Merkmal des Heimlichen zusammenhängen mag.

Abb. 1: Wortfverlaufskurve für das Verb naschen im Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS) im Zeitraum von 1600 bis 2000, abgefragt über https://www.dwds.de/d/ressources

Auch im Bereich der Synonyme gibt es keinen Ausdruck, der diese Lücke füllen würde, snacken ist zu weit gefasst, knabbern zu wenig auf Süßes zugeschnitten. Zwar kursieren zahlreiche regionale Varianten für naschen, diese schaffen es jedoch nicht in die Referenzkorpora, weder ins Deutschen Referenzkorpus (DeReKo–2022–I, IDS Leibniz-Institut für Deutsche Sprache Mannheim) noch in die Kernkorpora des Deutschen Textarchivs (DTA) oder ins Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS). Für die Alltags- und Umgangssprache in verschiedenen Regionen Deutschlands verzeichnet Matthias Stolz auf der Deutschland-Karte „Süßigkeiten essen“ der Zeit insgesamt 14 Verben, und einzig naschen ist überregional vertreten. Für den Süden sind schlecken und schnackern erfasst, im Norden ist eher schleckern und schickern geläufig und in Mitteldeutschland sowie im Rheinischen findet sich ein reichhaltiges Cluster weiterer sch-Verben zur Bezeichnung des Süßigkeitenverzehrs: schneken/schnegen/schnägen, schnackern, schnausen, schnösen, schnökern, schnucken, schnützen und schnuppen.

Kaum weniger variantenreich sind die Bezeichnungen für das Naschwerk selbst. Im aktuellen 13. Fragebogen listet der Atlas „Deutsche Alltagssprache“ allein zehn Varianten auf: Näscherei, Nascherei, Schnuppzeug, Gutsies, Süßigkeiten, Schnuck, Schlickersachen, Schleckzeug, Süßes, Naschwerk und ganz offensichtlich fehlen hier der Schnökerkram und das Schnuckelzeug.

Was da geschleckt, geschnuckt und genascht wird, ist durch die Heimlichkeit des Genusses gekennzeichnet, die Entspannung, Privatheit und auch einen Funken Geselligkeit verspricht. Diese Form des heimlichen Genießens nimmt im Zeitalter der öffentlichen Beichten und Enthüllungen, der Tabubrüche und Offenbarungen ausdrucksseitig kontinuierlich ab. Die Wortverbindung Süßigkeiten naschen klingt schon recht abgegriffen und wird immer häufiger durch Süßigkeiten essen abgelöst. Dieser Kollokationswandel steht womöglich für eine ganze kulinarische Praxis und ihre regulative Funktion in Bezug auf Freundschaften und das leibliche Wohl.

Und doch verschwinden die Nasch-Kontexte nicht völlig. Die Formulierungsmuster zu Süßes naschen und Süßes essen im Deutschen Referenzkorpus DeReKo lassen vermuten, dass die Rede vom Essen oder Naschen semantisch differenzierend wirkt: Genascht wird Süßes im (sprachlichen) Kontext des Feierlichen und Heimeligen, z.B. an Ostern und Weihnachten, gegessen wird Süßes im Rahmen einer bewussten und aufgeklärten Ernährungsweise, kontrolliert eben.

Genascht wird Schokolade an Weihnachten, gegessen wird sie, weil’s einfach Spaß macht

Dies ist das Ergebnis einer Schlüsselwort-Erhebung, bei der das 200-Wörter-Umfeld der beiden essen– und naschen-Phrasen auf der Basis folgender Suchanfragen kontrastiert wurden:

  • Suchanfrage „(Schokolade ODER Gummibärchen ODER Süßes ODER Süßigkeiten) /+s1 &essen“ im Deutschen Referenzkorpus und 6296 Treffern plus 200 Wörter-Kontext
  • Suchanfrage „(Schokolade ODER Gummibärchen ODER Süßes ODER Süßigkeiten) /+s1 &naschen“ mit 1076 Treffern plus 200 Wörter-Kontext

Keywords zur Phrase „Schokolade etc. essen“ sind die Wortformen ich, habe und mich und unter den ersten zehn Keywords zur Belegsammlung „Schokolade etc. naschen“ erscheinen die Wörter Süßigkeiten und Süßes (mit den statistischen Signifikanzmaßen Likelihood und Effektstärken zwischen 0,002 und 0,016 ermittelt in AntConc 4.1.4). Wenn in Texten des öffentlichen Sprachgebrauchs genascht wird, dann ist Weihnachten nicht weit:

Jeden Tag ein Türchen öffnen, ein Stück Schokolade naschen und Weihnachten einen Schritt näher kommen – was viele Kinder jedes Jahr erneut genießen und zelebrieren, kann sich auch für Erwachsene lohnen.

(M14/NOV.03779 Mannheimer Morgen, [Tageszeitung], 14.11.2014, Jg. 69, Mannheim Mitte, S. 35. – Verkauf hat begonnen, Quelle: DeReKo–2022–I )

Jens Preißing mag am liebsten das Dreierlei mit Nüssen, während sich seine Frau nicht festlegen will und am liebsten Gewürztaler, Sand-Buttersterne mit Schokolade, Mandelsplitter und Rumkugeln nascht. „Advent und Weihnachten sind schließlich nur einige Wochen im Jahr“, sind sich die beiden einig.

(RHZ14/DEZ.10851 Rhein-Zeitung, 12.12.2014, S. 16; In der Weihnachtsbäckerei …, Quelle: DeReKo–2022–I )

Wenn Schokolade und Süßkram gegessen und nicht genascht werden, steht im Umfeld oft das Pronomen ich und damit eine Person, die über die eigenen süßen Verzehrsgewohnheiten bereitwillig Auskunft gibt. Mal werden dabei der Gesundheit-, mal der Glücks-, und mal der Belohnungseffekt hervorgehoben.

So verriet Ursula von der Leyen ihre kleine Schwäche: „Ich liebe es, abends Schokolade zu essen.

(L08/NOV.02309 Berliner Morgenpost, 14.11.2008, S. 28. – Sachgebiet: Lokales, Originalressort: Leute; Barbara Jänichen: „Bild der Frau“ ehrt mutige Frauen, Quelle: DeReKo–2022–I )

Endlich können wir ohne schlechtes Gewissen Schokolade essen, seufzte die Zeitschrift Elle genussvoll, und Antioxidantien enthalte Kakao ja auch noch!

(U18/SEP.04003 Süddeutsche Zeitung, 22.09.2018, S. 58. Originalressort: Stil; Marten Rolff: GESCHMACKSSACHE, Quelle: DeReKo–2022–I )

Das elterliche Verbot zu naschen, wird mitunter augenzwinkernd verhandelt und kann sich sogar in einen Bildungsimpuls verwandeln. Denn richtig Naschen will gelernt sein:

Kinder sollten naschen dürfen. Verbote machten Süßigkeiten nur interessanter und das Verlangen danach größer. Wichtig sei aber, dass Kinder in Maßen naschen lernen. Dabei helfen Regeln: etwa, dass es Süßigkeiten nur zu festen Zeiten wie nach dem Mittagessen gibt, rät der aid.

(L09/NOV.02976 Berliner Morgenpost, 20.11.2009, S. 14. – Sachgebiet: Familie, Originalressort: Familie; Patrick Goldstein: Auf Süßstoff für den Nachwuchs lieber verzichten, Quelle: DeReKo–2022–I )

Als kleine Belohnung ist Naschen im Bildungskontext für Alt und Jung voll und ganz salonfähig und aller Heimlichkeit entkleidet:

Als Belohnung für ihren konzentrierten Einsatz gab es zum Schluss noch etwas Süßes zum Naschen.

(M10/OKT.74611 Mannheimer Morgen, [Tageszeitung], 29.10.2010, Jg. 65, Südhessen Morgen (Viernheim), S. 18. – Sachgebiet: Lokales, Originalressort: Viernheim; Mit dem gelben Blütenblatt auf Weltreise, Quelle: DeReKo–2022–I )

Die Heimlichkeit des Naschens ist nunmehr Quelle von Humor:

Guter Leser, es liegt auch an mir, ob es in der Region menschlicher und freundlicher wird oder rücksichtsloser und gleichgültiger. Hilf mir, deine Treue zur Zeitung in unsere Region hineinzutragen. Besonders nehme ich mir vor: keine Gummibärchen mehr heimlich aus der Tüte zu naschen. Mahlzeit! Das Tagebuch von Ingmar Nehls

(NKU12/SEP.06154 Nordkurier, 18.09.2012, Originalressort: Lokalredaktion; Beichte eines heimlichen Naschers, Quelle: DeReKo–2022–I)

Auch in Alltagsgesprächen taucht der Appell, nicht zu naschen, in humorigen Kontexten auf. Der folgende Frotzelkommentar entstammt einer Situation beim gemeinsamen Backen, in der die Mutter ihre Tochter scherzhaft ermahnt:

RA: du sollst nich jetz naschen hier

(FOLK_E_00331_SE_01_T_02, RA, Zeile 0457, Datenbank für gesprochenes Deutsch, Leibniz-Institut für Deutsche Sprache Mannheim)

Naschen hat seine kulturelle Heimat in der Scherzkommunikation, den Narrativen von Feiertagsritualen am Weihnachtsabend und an Ostern gefunden. Da sind die Süßigkeiten zur nostalgischen, beinahe albernen Requisite geworden.

Vergleicht man die Wortfrequenzkurve für naschen aus den letzten 400 Jahren (Abb. 1) mit der Kurve für vernaschen (Abb. 2), könnte man auf die Idee kommen, dass das Präfixverb vernaschen vielleicht als Ersatz für das heimlichkeitsverbandelte naschen einspringt. Denn der Gebrauch von vernaschen hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kräftig zugelegt und stagniert auf recht hohem Niveau. Das allerdings hängt damit zusammen, dass das Verb vernaschen eine neue metaphorische Gebrauchsdomäne erobert hat, die weder etwas mit heimlichem Genuss im kulinarischen noch im sexuellen Sinn zu tun hat, sondern sportlich gewendet ist. Dieser Bedeutungsaspekt ist in der Bedeutungsbeschreibung des DWDS als dritter Bedeutungsaspekt aufgeführt: „3. salopp jmdn. (mühelos, spielerisch) besiegen, bezwingen“. In den sprachlichen Mustern mit vernaschen rangiert diese Lesart bereits auf Rang 1, verkörpert durch die Personenbezeichnung Gegenspieler in Objektrolle. Sie ist das häufigste Partnerwort zu vernaschen und erfüllt kollokativ die Rolle des Akkusativ-Komplements: einen Gegenspieler vernaschen.

Acht Minuten später vernaschte Skiba zwei Gegenspieler und schob zum 2:0 ein.

(RHZ17/MAI.20957 Rhein-Zeitung, 22.05.2017, S. 25, Quelle: DeReKo–2022–I)

Robert Zulj: Als Bindeglied zwischen Mittelfeld und Spitze in seiner Lieblingsposition. Zeigte sich extrem spielfreudig, vernaschte reihenweise seine Gegenspieler und erzielte die Führung. Starkes Comeback.

(NUZ17/MAI.01157 Nürnberger Zeitung, 15.05.2017, S. 19; Die Spieler in der Einzelkritik, Quelle: DeReKo–2022–I)
Abb. 2: Wortfverlaufskurve für das Verb vernaschen im Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS) im Zeitraum von 1600 bis 2000, abgefragt über https://www.dwds.de/d/ressources

Der mit der Metapher hervorgehobene Bedeutungsaspekt des durch elegantes bis aggressives Spiel Wirkungslosmachens erhält von seinem Quellbereich her einen (ver)harmlosen(den) und etwas despektierlichen Beigeschmack, der auch in der Wendung jemanden zum Frühstück vernaschen anklingt. Das kann ein sportlicher Gegner oder auch ein Rivale auf politischer Bühne sein.

Die BILD-Prognose: Samstag um 8.30 Uhr (Anstoß deutscher Zeit) vernaschen wir die zum Frühstück.

(Bild, 13.06.2002, dwds)

Einen wie Rösler vernascht sie zum Frühstück (…)

(Lehming, Malte: KONTRA Punkt // Die Koalition der Gegner // Aus Merkels Sicht ist der Zeitpunkt für Neuwahlen jetzt günstig. Der Tagesspiegel, 28.02.2012, dwds)

Hier findet die einst so leidenschaftsbasierte Vokabel vorläufig ihr kannibalistisches Ende.

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