Der Detscher – Etwas neues Altes
Wochenendausflug. Dieses Mal nach Rudolstadt, einer thüringischer Mittelstadt, einst Residenzort derer von Schwarzburg-Rudolstadt. Nach der Wende Zusammenbruch der ortsansässigen chemischen Industrie, Bevölkerungsverlust von einem Fünftel, Selbstvermarktung als „Schillers heimliche Geliebte“. Auf dem properen Marktplatz wurde Keramik angeboten – zudem Röster, Burger, Fischbrötchen, lokales Bier, Cola und Detscher. Detscher? Ich war überrascht, denn den kannte ich nicht. Flugs eingereiht in die kleine Schlange, Bestellung, dann ein kurzes Gespräch mit dem Verkäufer, der ebenso schwarz-weiß gewandet war wie der Verkaufswagen.
Detscher, so erklärte er mir, sei eine traditionelle Speise aus dem nahe gelegenen Saalfeld. Kartoffeln, Mehl, Eier, all das vermengen, backen, dann mit ausgelassener Butter übergießen. Man habe das Arme-Leute-Essen aufgegriffen, daraus ein Produkt gemacht, eine Mischung aus Crêpe und Eierkuchen. Ich blieb skeptisch, nicht ob der einladend riechenden Speise, sondern ob der Geschichte. Ich sei Historiker, hätte davon aber noch nichts gehört. Wir schieden lächelnd, ich musste zur kulinaristischen Praxis übergehen: Der Teig war kräftig, kräftiger als Eierkuchen, fester als Crêpe. Zuckersüß, doch nicht zu sehr. Glänzend-fett dank Butter, die Holzgabel gab sanft nach: Kann man essen – mehr Lob ist von einem Hochsauerländer kaum möglich.
Weiter Schlendern, am anderen Ende des Marktplatzes lud der Aufsteller eines Bioladens abermals zum Kauf. Detscher als Tiefkühlkost. Gesehen, gekauft: Das Produkt im einheitlichen Design: Schwarz für das Edle, das Besondere, Gelb für das Teigig-Irdische. Typische Buzz-Wörter prangten auf der Verpackung: „Veggie“, „ohne Konservierungs- und Zusatzstoffe“, „aus regionalen Zutaten“, „nach traditionellem Rezept“, „hergestellt mit Ökostrom“. Das Arme-Leuten-Essen war mutiert zu einem Lifestyle- und Convenienceprodukt, schnell aufzukochen, ein mit gutem Gewissen zu verspeisendes Fertiggericht.
Doch war der Detscher mehr als eine Marketingillusion? Ein rascher Blick in die moderne Glaskugel, das Internet, ließ die Warnglocken schrillen. Klar, das Marketing war erfolgreich, die einschlägigen Rezeptdatenbanken präsentierten den „Thüringer Deutscher“ als früheres „Fest-Essen für arme Leute“, ebenso den „Saalfelder Detscher (Thüringen)“: Gepresste Pellkartoffeln mit Mehl und Salz vermengen, den Teig in Vierecke schneiden, beidseitig backen, am Ende Butter und Zucker hinzu, vor dem Essen einrollen. Das vermeintliche Saalfelder „Originalrezept“ gab noch ein Ei hinzu. Ansonsten keine belastbaren historischen Belege, ein Hauch von „Tradition“ und „Oma“ war vernehmbar.
Nun gut, eine Suche nach Detscher war natürlich Unsinn, denn beim „e“ liegt man offenkundig falsch. Dätscher bringt uns auf die richtige Spur. Im hessischen Hersfeld – so Brunhilde Miehe – wurde „Dätscher“, „Deitscher“ oder „Ploatz“ noch in den 1970er Jahren als Kartoffelkuchen, als Plattenkuchen gebacken. Nicht im heimischen Backofen, sondern im Backhaus, beim Bäcker. Dätscher war Beiwerk beim halböffentlichen Brotbacken, konnte mit Speck und Zwiebeln belegt werden, doch auch süß, für den nachmittäglichen Kaffee. Ältere volkskundliche Arbeiten unterstreichen dies, definieren den „Dätscher“ als „ein auf dem Blech oder in der Pfanne gebackener Kuchen aus vermengtem Weizen- und Kartoffelmehl“ (F. Kunze (Hg.), Volkskundliches vom Thüringer Walde, Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 6, 1896, 14-24, hier 20). Doch das ist schon wieder vereinheitlichtes Wissen, denn im hier angesprochenen thüringischen Henneberg – 90 Kilometer westlich von Saalfeld – sprach man im 19. Jahrhundert vom „Tätscher“, einem Kuchen aus rohen Kartoffeln, der in einer mit Fett und Butter versehenen Pfanne gebacken wurde. Er war im frühen 19. Jahrhundert, nach Einführung des Kartoffelanbaus, Teil bäuerlicher Alltagskost, eine „sehr gewöhnliche und beliebte Speise, besonders bei den Aermeren“ (Balthasar Spieß (Hg.), Beiträge zu einem Hennebergischen Idiotikon, Wien 1881, 40). Germanistische Lexika bestätigen dies, erweitern das Wortfeld um „Datsch, Detsch, Dotsch, Datschen etc.“ Auch „Daidscher“ lässt sich finden. Unklar bleibt die regionale Verortung dieses teigigen, zusammengedrückten Backwerkes aus Mehl und Kartoffeln. Auch Rahm und Zwetschgen wurden mit eingebacken. Weiter südlich aß man eher Reibekuchen pur, Kartoffeldatschi, verwendete dabei weniger Mehl (K[arl] Aabel, Das Kriegs-Kartoffelbuch, 12. Aufl., München 1919; Sophie Roberts, Die Kartoffelküche, 8. Aufl., Berlin et al. 1915).
Beim „Detscher“ handelt es sich in der Tat um die Revitalisierung einer vor zweihundert, vor hundert Jahren nicht unüblichen bäuerlichen und unterbäuerlichen Speise. Sie war einfach, schmackhaft und preiswert. Sie war in Thüringen, zumal Südthüringen verbreitet, zudem in Franken und in Osthessen. Diese Mittelgebirgsregionen übernahmen im späten 18. Jahrhundert als erste den Kartoffelanbau, während er im Südwesten oder Bayern erst im frühen 19. Jahrhundert aufkam. Erst in dieser Zeit finden sich Kartoffelspeisen vermehrt in der bürgerlichen Küche, erst seit der Jahrhundertmitte werden sie respektabel. Die damals wachsende Akzeptanz von Kartoffelsalat und Kartoffelpuffern sind dafür gute Belege. Während sich im Süden und Südwesten Deutschlands Getreide- und Kartoffelgerichte zunehmend auseinanderentwickelten, blieb das Gemenge, und damit der Dätscher, in den ärmeren Mittelgebirgsregionen mit ihrem „chronischen Brotkornmangel“ (Günter Wiegelmann) weiter bestehen. Er schied von uns in der langen Nachkriegszeit, nur mehr ältere Frauen erinnerten sich ihrer, wussten um die einfache Zubereitung.
Zurück am heimischen Herd konnte, ja durfte ich die mittlerweile nahezu aufgetaute Kartoffelspeise natürlich nicht wieder eingefrieren. 10 Minuten Aufkochen, die Detscher aus dem Beutel schneiden, Apfelmus dazu (warum im Bio-Apfelmus nur Rohrzucker sein muss…), zudem ein Apoldaer „Schwarzer Esel“, ein thüringisches Schwarzbier.
Der Detscher, eine Saalfelder, eine thüringische Spezialität? Falsch ist das nicht. Doch eine ähnliche Speise kann man wohl im gesamten deutschen Mittelgebirgsraum finden, der von der Pfalz über Nordhessen, Franken, Thüringen und Sachsen bis nach Schlesien reicht. Dortige Anbieter hätten das gleiche Recht, auf das kulinarische Erbe ihrer Gegend, ihrer Orte zu verweisen, um Altes in neuer Form anzubieten. Sie haben dies nicht, ein anderer Anbieter war hier schneller. Dafür gebührt ihm Dank.