Das scheußliche Klinikessen
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15. Mai 2023 (Seite 17) meint Susanne Johna, die Vorsitzende des Marburger Bunds, in ihrem Beitrag mit dem Titel „Man kann auf einzelne Klinikstandorte verzichten“ über das „Glück, nicht im Krankenhaus essen zu müssen“, auf die Frage „Ist das Klinikessen so scheußlich?“:
Meistens jedenfalls. Die Mahlzeiten fürs Personal sind um nichts besser als die für die Patienten…: Da muss sich dringend etwas tun.
Frau Johna hat Recht, man fragt sich nur, warum dieser Zustand erst jetzt ins Wort gefasst wird. Vor rund zwei Jahrzehnten, im Mai 2007, bin ich mit einer schweren inneren Erkrankung in die Krehlklinik in Heidelberg eingeliefert worden. Nach drei heiklen Wochen kam der Chefarzt auf mich zu und teilte mir die erfreuliche Nachricht mit, dass meine Werte besser geworden seien und ich nun auch wieder etwas essen sollte, eine besonders behutsame Kost werde vorbereitet. Als folgsamer Patient nahm ich an einem Freitagabend die Haube vom Teller und sah ein blasses Schälchen, legte dessen Deckel ab und sah: eine Portion Milchreis. Der Reis schmeckte unidentifizierbar, doch ich nahm zwei, drei Löffel – eine halbe Stunde später lag die sonderbare Speise wieder draußen, mein Magen hatte rebelliert. Ich informierte die Station. Am Samstagabend wurde mir wieder das Essen gebracht, ich nahm wiederum die Haube ab, sah wieder ein Schälchen, nahm wieder den Deckel ab und erblickte wiederum: Milchreis. Auch am Sonntagabend bekam ich ohne jede Erklärung die übliche Haube, nahm sie ab, sah das mir schon bekannte Schälchen, nahm dessen Deckel ab und fand noch einmal: Milchreis.
Da war meine Folgsamkeit zu Ende. Meine Beschwerde traf die gesamte Kollegenschaft, aber sie führte zu einem für mich sehr überraschenden Ergebnis: Die Professorenkollegen informierten mich ziemlich betroffen, keinerlei Einfluss auf die Nutrition der Patienten zu haben. Die Versorgung sei ausgelagert, die betreffende Firma versuche natürlich Gewinne zu machen und der Tagessatz für die Ernährung pro Patient liege bei 1.90 €. Ich möge mich doch in aller Form bei der Verwaltung beschweren und auch für eine Speisenwahl des Patienten votieren (die es bis dato noch nicht gab). Sie wurde später eingeführt, aber an der Hilflosigkeit der Ärzte in Sachen Ernährung der Patienten hat sich bis heute nichts geändert wie ein Klinikaufenthalt meiner Frau in der Heidelberger Uniklinik im Jahre 2022 zeigt.
Das Klinikessen ist nach wie vor schrecklich, aber wohl auch Schuld des Faches selbst: es hat bis heute kein Ernährungsmodul in die Ausbildung aufgenommen, von der anthropologischen Kulinaristik ganz zu schweigen, obwohl schon 2003 der Naturwissenschaftlers Felix Escher betonte, „dass den Natur- und Ingenieurwissenschaften zwar für die moderne Lebensmittelverarbeitung eine zentrale Bedeutung zukommt, dass sie aber nicht hinreichend sind, um alle brennenden Fragen rund um das Essen und Trinken heute und in Zukunft zu lösen. Eben deshalb ist Essen und Trinken ein Kulturthema im ganzheitlichen Sinne, und auch der Lebensmittelwissenschafter tut gut daran, sich mit diesem Kulturthema in der ganzen Breite auseinander zu setzen“ (Lebensmittelverarbeitung – Von der Empirie zur Wissenschaft, in: Ders. und Claus Buddeberg (Hg.): Essen und Trinken zwischen Ernährung, Kultur und Kultur, Zürich 2003, 85-109, hier 107).