Naschen

Naschen – dieses Wort führt uns wie eine Achterbahn durch die Gefilde des Erlaubten und Verbotenen, benennt unsere Stellung in der Welt, die Kommerzialisierung und Verwissenschaftlichung unseres Daseins, unseres Essens. Einst Sünde und Abirrung, wurde dem Naschen seit Mitte des 19. Jahrhundert ein größerer, allerdings zunehmend auf Süßwaren verengter Raum gegeben. Veränderte Geschlechtsbeziehungen und Erziehungskonzepte begleiteten, neue Gesundheitskonzepte und die wachsende Marktpräsenz süßer Lebensmittel prägten dies. An die Stelle der harschen Worte und der drakonischen Strafen trat ein Wechselspiel von kleiner Sünde, zuträglicher Belohnung und einem dennoch schlechten Gewissen.

Blicken wir genauer hin: Naschen ist heutzutage ein Essen oder Kosten – besonders von Süßigkeiten. Dieses heimlich zu tun, etwas Verbotenes zu naschen, scheint „veraltet“ zu sein (naschen – Wiktionary). Andere Lexika heben beim Naschen ein genießerisches Verzehren hervor, bewusstes Essen, Stück für Stück, mit gewisser Andacht. Naschen ist auch der kleine Biss, der schnell und unbeobachtet, teils unbedacht erfolgt (naschen – Schreibung, Definition, Bedeutung, Etymologie, Synonyme, Beispiele | DWDS). Blickt man dagegen ins Grimmsche Wörterbuch, so erscheint das Wort facettenreicher, vielgestaltiger: Naschen war mit Essen verbunden, doch das war nicht der einzige Lustgewinn: Geld wurde vernascht, Frauen und Männer gleichermaßen (Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 13, Sp. 394 (1883). Fast scheint es, als hätte das Naschen seine sinnliche, seine auch lüsterne, vergeudende Dimension verloren. Etymologisch zeigen sich weitere Nuancen des Naschens: Das althochdeutsche „nascōn“ verwies auf das Schmarotzen, das heimliche Wegnehmen, das mittelhochdeutsche „neschen“ dagegen auf den zu gewinnenden Leckerbissen, auf die verbotene Frucht, gar die Liebesfreuden. Andere mittelalterliche Wortstämme vornehmlich aus Norddeutschland und Skandinavien kokettieren mit dem hintergründigen Betteln, mit dem Weichen und Zarten, mit dem Knabbern, gar Nagen. Der Wortstamm weitete sich in der frühen Neuzeit, kam doch das „Vernaschen“ auf, das naschende Verbrauchen, das „Naschwerk“, auch das Attribut „naschhaft“ (Vgl. naschen – Schreibung, Definition, Bedeutung, Etymologie, Synonyme, Beispiele | DWDS).

Naschen als strafenswerte Sünde (Der Kinderfreund 5, 1777, I)

Naschen verwies zu Beginn der Neuzeit auf eine Verlockung, eine Handlung und Gesinnung, konturierte aber auch den Gegenstand des Begehrens, mochte er nun süß, verboten oder schwer zu erhalten sein. Kurzum: Naschen war ein höchst ambivalentes Tun, ein Gradmesser der Tugend, ein Ausdruck von Erziehung und Charakter. Naschen war nah der Abirrung, der Vertierung des Menschen und der Sünde.

Dem galt es vorzubeugen, vor allem bei den kleinen, noch formbaren Kindern, weil „das Naschen auch eine Art des Diebstahls ist, und in der Folge leicht zum eigentlichen Stehlen führen kann, indem durchs Naschen schon das Gewissen bey Kindern stumpf gemacht wird“ (Carl Christian Sommer, Fibel oder Elementarbuch zum Lesenlernen, 2. verb. Aufl., Kulmbach 1810, 32). Es galt den Anfängen zu wehren, denn ein naschendes Kind vermochte nicht zwischen Mein und Dein zu unterscheiden: „Der Nascher wird sich nicht lange begnügen mit den Eßwaaren im elterlichen Hause, seine ungezügelte Lust wird ihn bald in des Nachbars Garten locken, wo die strotzenden Fruchtbäume stehen. Belächle man diese Frechheiten ja nie als kühne Knabenstreiche, wenn man nicht einen Dieb oder Räuber heranziehen will“ (J[oseph] G[abriel], Kurze, praktische, sittliche Erziehungslehre […], Abt. 1, München 1841, 41-42). Naschen sei zu untersagen, mit unnachsichtiger Strenge zu bestrafen.

Doch es ging nicht nur um einen Sieg über die Versuchung des Bösen und zum Bösen. Es ging parallel um die Ordnung des Essens, der familiären Mahlzeiten. Naschen war unkontrollierbar, zerstörte den steten, auskömmlichen und gesunden Nahrungsstrom, den geregelten Ablauf: „Nichts ist schädlicher, als wenn sie immer ein bisschen essen und zur rechten Mahlzeit keinen Appetit haben“ (Karl Georg Neumann, Beiträge zur Natur- und Heilkunde, Bd. 1, Erlangen 1845, 10). Das geregelte Essen wurde zugleich als Pflicht und Freude präsentiert: „Pfui Naschen! ei das schadet sehr, / Verdirbt Geblüt und Magen. / Man lebt nicht lang, und ohngefähr / Muß man zu Grab uns tragen; / D’rum sey von mir das Naschen fern, / Dann ess‘ ich jeden Mittag gern“ (Johann Baptist Strobel, Unglücksgeschichten der unerfahrnen Jugend in lehrreichen Beispielen zur Warnung dargestellt, München 1849, 82). Dem kindlichen Drang zum Erkunden, zum Schmecken und Betasten der Welt war entgegenzukommen, bei Obst und Früchten, auch bei Zucker- und Naschwerk. Noch galt die Idee, dass man starke Leidenschaften nicht brechen, wohl aber lenken könne. Die Kinder durften ihre Lieblingsspeisen einfordern, Eltern sollten ihre Vorlieben berücksichtigen, wenn denn dadurch das Naschen unterbliebe. Seit der Jahrhundertmitte wurden solche, noch an der alten Humoralpathologie geschulten Ideen durch ein (wenngleich begrenztes) Wissen um die menschliche Physiologie verdrängt „Es gibt nichts gefährlicheres für Leib und Seel deines Kindes als das Naschen, das Essen außer der Zeit. Bei jeder Schüssel muß etwas Hunger sein, sonst schadet das Essen stets mehr, als es nützt. Nur dann, wenn die vorausgenossene Nahrung bereits vollständig verdaut ist und wenn sich Hunger einstellt, darf man wieder essen. Was man zu viel ißt und was man zur Unzeit ißt, das nährt den Körper nicht, sondern das zehrt an der Gesundheit“ (Falsche Fütterung, Monika 8, 1875, 163-164, hier 164). Ordnung am Tisch, im Nahrungsverzehr war nicht mehr länger bürgerliche Setzung gegen die Libertinage des Essens des unmittelbar Verfügbaren, sondern entsprach nun der Natur, dem Modelldenken der Naturwissenschaften.

Das Naschkätzchen: Weiblich und mit Süßwaren verbunden (Über Land und Meer 103, 1910, 43)

Neben dem Kind stand das Tier, stand immer auch die Frau. Naschen war im späten 18. Jahrhundert noch etwas Natürliches, war Teil der belebten Umwelt, kennzeichnete das Dasein der Bienen und Schmetterlinge, auch junger Vierbeier, den Fohlen oder Zicklein, der Brei naschenden Kätzchen. Die Objekte des naschenden Begehrens waren entsprechend breit, reichten von frischen Gras und Kräutern, Blumen und Nektar bis hin zu Nahrungs- und Genussmitteln. Bei Kindern und Frauen dominierten eher Honig und Kuchen, doch genascht wurde auch Milch, Käse oder aber Wein, das lockende Innere der Speisekammern. Das Naschen von Tier und Mensch war noch verbandelt, das Naschkätzchen fasste dies begrifflich. Naschen war natürlich, war Teil der Menschwerdung, Teil aber auch des Spiels zwischen den Geschlechtern: „Männer suchen stets zu naschen, / Läßt man sie allein, / Leicht sind Mädchen zu erhaschen, / Weiß man sie zu überraschen; / Soll das zu verwundern sein? / Mädchen haben frisches Blut, / Und das Naschen schmeckt so gut.“ Johann Wolfgang Amadeus von Mozarts Arie (KV 433) benannte 1783 die Naschlust, begrenzt sie aber auch: „Doch das Naschen vor dem Essen / Nimmt den Appetit, / Manche kam, die das vergessen, / Um den Schatz, den sie besessen, / Und um ihren Liebsten mit, / Väter, läßt’s euch Warnung sein: / Sperrt die Zukkerplätzchen ein!“ Auch dort ein Erziehungskorsett zwecks Einhegung des Vernaschens, zwecks Eindämmung der Nascher, also der Ehebrecher. Die Parallelwelt von Eros und Essen, vom Verschlingen und Einverleiben war darin transparent, spielerisch naschend, wie im Symposium, wie im Lustmahl, wie dann im Chambre séparée oder den Animierkneipen des spätbürgerlichen Zeitalters. Das Naschkätzchen entwickelte sich zum süßen Mädel, zum knackigen Burschen, wurde Zentrum eines neuen Marktes, in dem Fleisch die Ware, in dem anonymes Naschen Geld wert war, der aber immer seltener mit Kindern verbunden war. Die stete, die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts begleitende Klage über naschende Dienstmägde oder Köchinnen, oder über die zahllosen Besuche junger Herren und hungriger Soldaten in den bürgerlichen Küchen, bildeten eine Zwischenwelt von etwas, das sprachlich auseinanderfiel, mag es sich auch in Alltagssentenzen halten, wenn Naschen denn mit Dick machen verbunden wird.

Der naschende Bär im Zeitalter des Imperialismus und das naschende Kind in einer noch vorhandenen Welt wilder Beeren (Kikeriki 18, 1878, Nr. 33, 3 (l.); Münchener Bilderbogen 44, 1891, Nr. 1042)

Das späte 19. Jahrhundert war begrifflich wohl die Hochzeit des Naschens, denn neben Essen und Eros bezeichnete es auch eine Stellung zur Welt. Die weibliche Sphäre, idealiter begrenzt auf Haus und Küche, lud immer zur Grenzüberschreitung ein: „Denn stets voran vor Allen sind die Frauen, / Wenn’s was zu gaffen, was zu naschen giebt“ (Goethes Faust [falsch] zit. n. Der Wahre Jacob 14, 1897, 2366). Naschen war gebilligt, wenn die Sphären nicht überschritten wurden: Am Weihnachtsabend war Raum und Zeit zum Naschen, dann gehörten Lebkuchen und Nüsse den Kindern (Zeitschrift für die elegante Welt 1812, Nr. 250 v. 21. Dezember, Sp. 1996). Das Naschen von Bildungsgütern und Musik war für Frauen erlaubt, wenn sie denn nicht ihren Status in Frage stellten: Mütter sollten Töchter daher formen: „Man läßt sie an allen Dingen naschen, keines ordentlich lernen. Daher ihre Denkfaulheit, ihr geschäftiges Müßiggehen, das eine Riesenarbeit vollbracht zu haben glaubt, wenn es einen pikanten sechsbändigen Roman durchflogen hat! Daher die Lust an hohlem Gerade, an Klatschsucht, dieser Zwillingsschwester eines verdorbenen Charakters“ (Gustav Schollwöck, Um fremdes Glück. (Fortsetzung.), Das Buch für Alle 11, 1876, 89-92, 94-95, hier 91).

Naschen war gefährlich, die Beispiele dafür Legion: Das Naschen an Tollkirschen, Pilzen, an unreifen Früchten und nicht gekennzeichneten Giften war offenkundig bedrohlich, Selbstzucht und Anleitung erforderlich. Doch ein geregeltes Erkunden schien denkbar. Lektüre konnte verderblich sein, doch „naschen hier, naschen dort“ konnte auch vorwärtsbringen, blieb am Ende doch auch Nützliches hängen (Wochenblatt der Land-, Forst- und Hauswirtschaft 13, 1862, 75). Naschen wurde so auf Naschkorridore verwiesen: „Drum laßt uns schnell mit frohem Muth / Die Faschingsfreuden naschen“ (Linzer Wochen-Bulletin für Theater, Kunst und geselliges Leben 1863, Nr. 6 v. 7. Februar, 3).

Im späten 19. Jahrhundert wurden diese Korridore erweitert. Libertinage galt auch für Frauen denkbar, mochte sie auch noch nicht schicklich sein: „Naschen? Ah, Miß, was das für ein hübsches Wort ist! – Aber kein Losungswort für einen Ehemann der nächsten Zukunft – Glauben Sie? Warum nicht? – Sie fragen wie eine Pensionärin – Ich wiederhole, warum nicht? Naschen, das klingt so unverfänglich – so harmlos – so kindlich! – Man schlägt die Kinder auf den Mund, wenn sie allzu genäschig sind – Man risikirt die süße Strafe, wenn die viel süßere Verirrung gelungen ist“ (Josef Braun, Die lustigen Weiber von Wien (14. Fortsetzung), Wiener Caricaturen 1881, Nr. 33, 5). Zugleich aber durchbrachen Frauen- und vor allem die Arbeiterbewegung die fremdgesetzten Grenzen. Emanzipation zwischen Frau und Mann, zwischen Arbeiter und Bürger: Nicht mehr um das Naschen vom Baum des Wissens ging es nun, sondern um den vollen Trank der „süßen Quelle der Kunst“ (J. Stern, Die Arbeit. Festspiel in vier Szenen, Der Wahre Jacob 7, 1890, 778-779, hier 778). Naschen wurde dadurch verdrängt, ging in eine neue Sprache der Selbstbestimmung über. Und es wurde zugleich in die Ferne verdrängt, fand sich in der Exotik des Orients mit Harems voll naschender Weiber, fand sich auch im vermeintlichen leichten Leben der Naturvölker.

Naschen als physiologisches Bedürfnis des wachsenden Kindes (Die Frau und Mutter 21, 1932, H. 9, 15)

Auch Kinder erhielten dadurch vermehrte Naschchancen, zugleich verringerten sich die Strafen, wurde die Pädagogik offener. Gewiss, die „scheinbar harmlosen Verwöhnung des erlaubten Naschens“ (Gertrud Moldzio, Mein Kind, Leipzig 1900, 76) wurde weiterhin kritisiert, regelmäßiges Essen zu Tische galt noch als gesetzt. Doch parallel zu einem sich ausweitenden Markt der Konditoreien und Lebensmittelgeschäfte wurden Süßwaren vermehrt eine Belohnung für Wohlverhalten, ein Geschenk und ein Mitbringsel. Naschen galt weiterhin als inopportun, doch der massiv steigende Zuckerkonsum – 1850 ca. 2 kg pro Kopf und Jahr, 1913 ca. 20 kg – forderte seinen alltagpraktischen Tribut. Naschen wurde eine lässliche Sünde: „Mutter: ‚Höre nun auf zu weinen, ich will Dir diesesmal noch verzeihen, wenn Du einsiehst, daß es eine Sünde ist, zu naschen.‘ Karl: ‚Ja, ich sehe es ein, daß es eine Sünde ist, zu naschen, aber – es ist so gut!‘“ (Aus der Kinderstube, Kikeriki 56, 1916, Nr. 49 v. 3 Dezember, Beil., 3) Vor dem Hintergrund neuer Angebote verlagerte sich das Wortfeld: Auf der einen Seite wurden der Händler, der Hersteller, der Automat ob ihrer Verführung kritisiert. Markterziehung trat an die Seite der Familien- und Schulerziehung, eröffnete seit der Jahrhundertwende neue, gern genutzte Naschräume. Zum anderen nahm die Zahl potenzieller Sünden zu: Rauchen war für Männer kein Naschen, sondern ein kleiner Genuss. Und der wachsende Markt der Pralinen und Konfekte, von Kaugummi und Pfefferminzbonbons bot dafür Substitute: „Weißt Du, so ein wenig Süßigkeiten naschen ist für uns heute dasselbe wie für die Männer das Rauchen.‘ ‚Wir rauchen doch auch Zigaretten, Regina.‘ Diese zuckte die Achseln. ‚Wir tun das nur aus Koketterie und mit Maßen. Die Männer sind ja den Süßigkeiten auch nicht ganz abhold. Sie rauchen viel – und naschen wenig, wir naschen viel und rauchen wenig. Das ist ausgleichende Gerechtigkeit“ (Hedwig Courths-Mahler, Vergangenheit (5. Fortsetzung), Blatt der Hausfrau 1919/20, H. 46/47, 9-13, hier 12). Anderseits warb die Zigarettenindustrie vor dem Hintergrund eines zunehmend schlanken Körperideals um Frauen: „Nasche nicht, sondern rauche ein Zigarette“ (Rauchen oder naschen?, Die Lebensreform 7, 1930, 48) hieß es erst von American Tobacco, dann auch von anderen Anbietern.

Naschen als Innehalten, als Stimmungsgarant (Scherl’s Magazin 5, 1929, H. 1, 105)

In der Zwischenkriegszeit stand Naschen für die Dynamik eines milieuaufbrechenden Lebensstils, wurden die neuen Angestellten zu Agenten eines neuen Naschbewusstseins ohne allzu schlechtes Gewissen: „Naschen ist ja schließlich kein Verbrechen, sondern nur eine schlechte Angewohnheit“ (Westböhmische Tageszeitung 1936, Nr. 99 v. 26. April, 6). Naschen wurde Teil eines urbanen Lebens, auch „eines raschen Essens im Vorübergehen“ (Gerstner, Die Stunde 1936, Nr. 3902 v. 13. März, 3) – lang vor dem Vordringen der Systemgastronomie.

Selbstverständlich fand derartiges Naschen weiter Kritiker. Doch es waren nun vermehrt Mediziner und Ernährungswissenschaftler, die über den Einfluss von Zucker auf die Zähne diskutierten, sich gegen das Essen „ambulando“ wandten, gegen die Amerikanisierung der Alltagskultur. Doch anders als die schwarze Pädagogik des Verbots und der Strafe erzielten diese Experten keine langfristig verpflichtende Verbindlichkeit. Schließlich verwies just die Wissenschaft vermehrt auf die Vorteile eines vielfältigen Essens, kleinerer Portionen, auf den Gesundheitswert von Obst, Säften und Frischkost, den Nährwert von Schokolade. Nicht Naschen war das Problem, sondern der Umgang mit dem Naschzeug: Naschen wurde toleriert, falls die Zähne geputzt wurden, falls das Naschgut Ergänzung blieb und die mögliche Folgen mit Gymnastik und Maß eingehegt wurden.

Mit der Autorität der „Wissenschaft“: Gesundes Naschen auch von Süßem (Die Ernährungswirtschaft 14, 1967, 101)

Naschen wurde durch die Wissenschaft gestärkt und in neue Bahnen gelenkt. Geschmacksforschung und Sensorik hoben die Bedeutung des Süßen hervor, naturalisierten die neue Süße zum Grundtrieb von Kindern und Erwachsenen (R. Geigel, Der wählerische Appetit, Münchener Medizinische Wochenschrift 70, 1923, 808-809; Albrecht Peiper, Naschende Kinder, Die Medizinische Welt 13, 1939, 1234-1235). Die Stoffwechselphysiologie plädierte für eine begrenzte Abkehr vom rigiden Korsett dreier täglicher Mahlzeiten. Zwischenmahlzeiten schienen gesund, passten zudem besser in Arbeitsmärkte, in denen zwei, später fast drei Viertel der Frauen arbeiteten.

Kommerzielle Nascherlaubnis: Frühlingspizza (Blick 35, 2003, Nr. 16, Beilage)

Das Naschen, diese einst so heimliche kleine Wonne, wurde spätestens in der Nachkriegszeit offen propagiert und mit einem sich weiter verengenden Kreis einerseits süßer, anderseits gemeinschaftlich konsumierter Waren verbunden: Süße Erfrischungsgetränke begleiteten und prägten Pausen, Speiseeis schuf eigene Räume, der Selbstbedienungsmarkt neue Zugänge. Die Wohlstandsentwicklung verbreiterte seit den späten 1950er Jahren Jugendmärkte, ermöglichte spezielle Zielgruppenangebote, ein sich erweiterndes Naschangebot in Klarsichtpackungen und Blechdosen. Naschen wurde normal – so normal, dass es seinen sündigen Charakter in der Öffentlichkeit fast gänzlich verlor. Als Snack, als kleine Stärkung, als Selbstbelohnung wurde es Teil des Alltags, doch eines Alltags ohne die Aura des verbotenen Glücks. Geblieben sind die alten Lasten, die wir selbst tragen und mit denen wir ringen, wenn wir naschen: die der Sünde, des Selbst- und Fremdbetruges, der Selbstliebe und der Gesundheitsschädigung. An die Stelle des einst alles sehenden und alles strafenden Gottes sind die säkularen Mächte der Wissenschaft und des Marktes getreten, die uns bestärken, verführen, uns Alternativen anbieten und neue Haltepunkte. Von alledem naschen wir, darauf hoffend, zwischen den vielen Optionen unseren eigenen Weg zu finden. Und so stehen wir in einer nicht nur sprachlich paradoxen Situation: In einer Multioptionswelt haben wir einen Freibrief zum allgemeinen Naschen, zum Erhaschen, Mitmachen und Anteilnehmen – doch dafür haben wir so viele andere, so viel modischere Worte. Naschen aber ist verengt auf Süßwaren, auf Zuckerzeug, das wir uns einverleiben, um in alledem Ruhe und Ordnung zu finden.

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