Was ist Kulinaristik?

Die Kulinaristik fußt unter anderem auf  Friedrich Nietzsches Verständnis kollektiver  Essenordnungen als  „Offenbarungen über Kulturen“[1], weil sich aus dieser Erkenntnis ergibt, dass für alle Kulturwissenschaften,  vor allem für Fremdkulturwissenschaften wie die weltweit unterschiedlich aufgestellte Germanistik, das Kulturthema Essen wissenschaftswürdig, legitim, angemessen und ergiebig sind.

[1]  Friedrich Nietzsche: Kritische Gesamtausgabe der Werke, ed. Giorgio Colli und Mazino Montinari VIII / 2, Berlin 1967, S. 454; vgl. Heinrich Schipperges: Am Leitfaden des Leibes: zur Anthropologik und Therapeutik Friedrich Nietzsches. Stuttgart 1975; ders. : Zur Philosophie der Ernährung. In: Alois Wierlacher /Gerhard Neumann / Hans-Jürgen Teuteberg (Hg.): Kulturthema Essen. Berlin 1993, S. 25–40.

Die wichtigsten Dimensionen der Kulinaristik

Die wichtigsten Dimensionen der Kulinaristik lassen sich gut am Modell dreier konzentrischer Kreise verdeutlichen:

Kreislaufmodell nach Alois Wierlacher

Der innerste Kreis erfasst die Notwendigkeit zu essen und zu trinken (Nutrition). Diese Bedingung unserer Existenz suchen Natur- und Ernährungswissenschaftler sowie Mediziner im Kulinaristik-Forum angemessen zu bedenken. Der zweite Kreis steht für die Kulturen. Sie machen aus dem Reich der Notwendigkeit ein Reich der Vielfalt von Speisen und Getränken, von Regeln, Zeichen, Normen, Ritualen, Redeweisen oder Symbolen. Darum wirken in der Kulinaristik auch Kulturforscher, Kulturvermittler und Kommunikationswissenschaftler mit. Der dritte und umfassende Kreis repräsentiert die Gastlichkeit. Sie gehört zu den ältesten Konzepten, mit denen Menschen ihr Zusammenleben regeln; sie hält die Vielfalt der Menschen, Völker und Nationen kommunikativ zusammen, sie ist das Rahmenthema der Kulinaristik. Alle wissenschaftliche Arbeit beruht auf Grundprinzipien wie der Ehrlichkeit, die in allen Disziplinen und in allen Ländern gleich sind, während die Konzeptionen und Gegenstände wissenschaftlicher Disziplinen durch Problemstellungen und theoretische Annahmen erst konstituiert und in einem vorgegebenen Verstehensrahmen entwickelt werden. Ihre Gegenstände sind sowohl das Resultat individueller Auffassungen als auch das Produkt kultureller Kategorisierungen der Realität.  Diese Feststellung gilt auch für die Kulinaristik. Sie wird insgesamt auf Deutsch entwickelt, um unsere sprachkulturelle Fähigkeit zur Begriffsbildung die entsprechenden Sprachkompetenzen der Aktanten insbesondere im Handlungsfeld der Gastlichkeit zu fördern.

Die Gastlichkeit

Gastlichkeit gehört zu den ältesten Kommunikationskonzepten, mit denen Menschen über Grenzen hinweg ihr Zusammenleben regeln. Sie gewinnt im Zeitalter der Globalisierung erhöhte Aktualität und muss wie alle Leitkonzepte von jeder Epoche neu gefestigt werden. Drei Grundformen der Gastlichkeit sind – in Anlehnung an Burkart Liebsch – zu unterscheiden: die anthropologische Form, die politische und die kulturelle. Mit der ersten Form wird das Faktum konzeptionell erfasst, dass wir alle Gast des Lebens sind; mit der politischen Form der Gastlichkeit ist die bedarfsorientierte Aufnahme von Menschen in Not und Verfolgung bis hin zum Asyl gemeint; mit dem Begriff ‚kulturelle Gastlichkeit’ bezeichnen wir die kulturspezifische Praxis, Menschen zu einem gemeinsamen Essen einzuladen und gegebenenfalls auch zu beherbergen. Alle drei Formen unterbrechen und suspendieren auf unterschiedliche Weise Routinen, Konkurrenzen und Wertschöpfungsketten in der alltäglichen, gesellschaftlichen Wirklichkeit; Alle eröffnen Perspektiven für eine primär am Leben schutzorientierte Variante des Umgangs der Menschen miteinander und ihres Verhältnisses zu den natürlichen Lebensbedingungen.
Die kulturelle Form der Gastlichkeit steht im Mittelpunkt der Kulinaristik. Wir verstehen sie als ein Beziehungskonzept, ein Kulturmuster, eine Rechtsfigur, ein Geschäftsmodell und eine übergreifende Schutzkategorie. In all diesen Hinsichten ist die Gastlichkeit in ihrer Lebenswirklichkeit an eine Vielfalt kultureller Formen gebunden; über ihren Anker (Bendix, 2008, 49) des gemeinsamen Essens ist sie eng mit den Kommunikationssystemen in Alltag und Festtag verbunden.

Lesen Sie mehr: Alois Wierlacher, Das Konzept „Kulinaristik“ (2013)